Bei der SV Böblingen ist in dieser Saison fast alles möglich – Neue Abteilungsleitung soll im September feststehen

Selten war die Bandbreite der Möglichkeiten so groß, wie die SV Böblingen in ihrer dritten Verbandsliga-Saison abschneiden könnte. Geheimtipp oder Auslaufmodell? Alles, wirklich alles scheint möglich, es kommt nur auf die Betrachtungsweise an.

Nimmt man die Mannschaft, ist man fast geneigt, zu leichten Höhenflügen anzusetzen. Trotz der unerwarteten Pokalpleite im Achtelfinale beim TSV Heimerdingen (3:4). Schaut man aber auf die noch mindestens bis September ungeklärte Führungsfrage der Abteilung – erst dann soll mit Verspätung die Jahreshauptversammlung stattfinden – erscheint vieles wieder im Ungewissen.

“Ich bin ja nicht das erste Jahr in Böblingen”, antwortet Trainer Mario Estasi, darauf angesprochen, ob sich der Kulissendonner auf seine unmittelbare Arbeit auswirken könnte. Abgehärtet sei er inzwischen, fügt er mit süßsaurer Miene hinzu. “Oft mache ich das aber nicht mehr mit.” Was er damit meint? Eine Abteilungsleitung, die am Tropf des Hauptvereins hängt, gegebene Versprechen und Zusagen, auf die er sich ebenso wie die Spieler verlassen hatte, die aber nicht eingehalten wurden, eine umstrittene Umlage unter den Mitgliedern, um finanzielle Löcher wenigstens notdürftig zu stopfen, die Abmeldung der zweiten Mannschaft vom Spielbetrieb, Rücktritte auf der Führungsebene, die mal gewollt waren und dann wieder überraschend kamen. Kontinuität war in den zurückliegenden Monaten trotz aller Beteuerungen ein Fremdwort, sicher war eigentlich nur, dass man sich vor gar nichts sicher sein konnte.

Vor der Runde hatte er die Chance, ganz elegant ein paar Kilometer weiter anzuheuern. Der SV Bonlanden lockte ihn, von Schönaich aus, wo er gerade für seine Familie ein Haus baut, wären das nur ein paar Kilometer mehr als an den Silberweg. Und trotzdem sagte Estasi ab. Mit einer ganz simplen Begründung, die die ganze Widersprüchlichkeit im Böblinger Fußball deutlich macht: “Ich bin von meiner Mannschaft begeistert.” Wäre er gegangen, zusammen mit seinem Co-Trainer Jorge Calderon, so vielleicht sein Empfinden, dann hätte er sie im Stich gelassen. Auch wenn er sagt: “Irgendwann bin ich als Trainer nicht mehr da. Aber man darf diese Mannschaft einfach nicht vor die Hunde gehen lassen.”

Er spüre zwar die Anerkennung, auch in der Stadt, die ihm und seinen Spielern entgegengebracht wird, aber das allein reicht nicht. Und dann verweist er noch auf den Nachbarn, die unaufgeregte, aber verlässliche Arbeit der Verantwortlichen dort, die im Gegensatz zur SVB keinen Anlass zu (Negativ-)Schlagzeilen bietet. “Der VfL Sindelfingen hat es nach dem plötzlichen Tod seines langjährigen Abteilungsleiters Ewald Höhn auch hingekriegt und ist inzwischen ebenfalls in der Verbandsliga angekommen”, blickt Estasi zurück. Das müsste doch auch in Böblingen möglich sein. “Aber nur, wenn alle endlich gemeinsam anpacken.” Eine klare Ansage an das mögliche neue Führungsteam, das in den Startlöchern sitzt, das aber nicht nur im Sande verlaufene Strukturen wieder neu aufbauen muss, sondern auch einen Berg von Altlasten aus der Vergangenheit abzutragen hat. Eine wahre Herkulesarbeit.

Umso erstaunlicher vor diesem Hintergrund ist, zu welchen Leistungen sich die Mannschaft immer wieder aufrafft. Nach dem Aufstieg hat sie zwei Jahre im württembergischen Oberhaus eine gute Rolle gespielt. Und scheint jetzt bereit zu sein, den vermeintlichen Favoriten wie Göppingen, Auftaktgegner SG Sonnenhof Großaspach II oder Absteiger FSV Bissingen so richtig auf die Zehen zu treten.

Kader ist durch die Heimkehrer Mijic und Hauth noch stärker

Auch wenn sich Trainer Mario Estasi in Zurückhaltung übt. “Erst mal auf 40 Punkte kommen, denn es kann schnell passieren, dass man gegen den Abstieg spielt.” Und nach den 40? “Dann wollen wir die 50er-Marke knacken, dann wären wir besser als in der vergangenen Saison.” Weiter geht er nicht in die Offensive, weil er die Baustellen zu genau kennt. “Wir haben zwar oft mehr Ballbesitz als der Gegner, machen aber noch zu wenig daraus.” Da muss und will die Mannschaft effektiver werden, denn auch ihre Ansprüche steigen. “Vom Spielerischen her sind wir sicher nicht weit weg von den vermeintlichen Aufstiegsaspiranten, in anderen Bereichen sieht das anders aus”, so seine zweite Einschätzung. Soll heißen: Wenn kein Störfeuer kommt, das auch in der Vergangenheit zu viel Unruhe und sogar einem Trainingsboykott führte, und wenn die Spieler sich voll und ganz aufs Kicken konzentrieren können, kann die SV Böblingen zu einem gefährlichen Gegner werden.

Was für sie spricht? Der Kader ist nicht nur zusammengeblieben, er wurde durch die Heimkehrer Christian Mijic (SSV Reutlingen) und Simon Hauth (SpVgg Holzgerlingen) noch einmal verstärkt. “Wir gehen auch nicht mit elf Stammspielern in die Runde”, stellt der Trainer fest, “wir haben mindestens 16 oder 17 und uns damit in der Breite verbessert.” Immerhin vier davon fehlten in der Vorbereitung: Daniel Knoll, Maikel Boric und Dejan Djordjevic waren verletzt, Hakan Cakmak kehrte erst spät aus der Türkei zurück, hat inzwischen aber längst den Anschluss geschafft. “Wenn alle da sind, habe ich ein Luxusproblem”, weiß Estasi mit einem Augenzwinkern. “Aber damit kann ich umgehen.”

Wobei sich in den Vorbereitungs- und Pokalspielen eine erste Elf herauskristallisiert hat. Torhüter David Jach schlug immerhin ein Angebot von Drittligist 1. FC Heidenheim aus, ihm dicht auf den Fersen ist Florian Mack. Schade, dass sich Andi Quindt nach dem Punktspielauftakt für zwei Monate in die USA verabschiedet. So offensivfreudig hat man ihn lange nicht erlebt. Womit er genau die Forderung des Trainers erfüllt, leistungsmäßig endlich den nächsten Schritt zu machen. Ersatz für ihn steht mit Daniel Knoll parat – vorausgesetzt, dass er bis dahin seinen Muskelfaserriss auskuriert hat. In der Innenverteidigung liegt neben Fabian Schragner (derzeit an der Hand verletzt) Steffen Wagner vor Max Frölich, komplettiert wird die Viererkette von Rudy Vargas Müller.

Im zentralen Mittelfeld sind Kapitän Timo Paetzold und Simon Hauth auf den Sechser-Positionen sowie Daniel Fredel als “Zehner” gesetzt. Doch da kündigt sich schon wieder Unheil an: Fredel hat einen Studienplatz in Köln erhalten, droht also ab Oktober nicht mehr zur Verfügung zu stehen. Womit ein Eckpfeiler aus dem Mannschaftsgefüge herausbrechen könnte. “Weil er zu den Spielern gehört, die die SVB-Raute auch im Herzen tragen”, drückt es Mario Estasi fast schon pathetisch aus. Als D-Jugendtrainer ist er zusammen mit Fabian Schragner eingestiegen, die ganze Familie Fredel nimmt Anteil am SVB-Fußball.

Vorne ist die Auswahl nicht ganz so groß. Christian Mijic und Sascha Raich besetzen die Außenbahnen, in der Mitte soll Ivan Vargas Müller für die Tore sorgen. Alternativen? “Dejan Djordjevic wäre eine Rakete”, so Estasi über seinen vielleicht schnellsten Spieler im Kader, der aber viel zu oft ausfällt. “Bei ihm geschieht alles explosiv, vielleicht ist er deshalb immer wieder verletzt”, macht sich der Trainer Gedanken. Irgendwann dürfte auch Maikel Boric wieder zum Kader dazustoßen. “Ein geiles Gefühl, endlich wieder Fußball spielen zu können”, meinte der derzeit verhinderte Torjäger nach seiner langwierigen Handverletzung, die sogar einen zehntägigen Krankenhausaufenthalt notwendig machte. Und auch Youngster Gianluca Peluso hat mit seinen Pokal-Toren unterstrichen, dass er sich auf dem Feld wohler fühlt als auf der Bank. Überhaupt die Jungen. “Sie verstecken sich nicht, fehlen bei keiner Trainingseinheit und nehmen jeden Tag begierig mit, müssen aber noch lernen”, stellt Estasi klar. Einsatzzeiten kann er aber keinem versprechen. Lukas Zweigle ist sicherlich am weitesten, für die anderen wäre eine zweite Mannschaft zur Spielpraxis immens wichtig. Doch die gibt es nicht mehr. “Wir müssen eben im Training die Intensität hochhalten und öfters ein Testspiel bestreiten”, weiß Estasi um die mögliche Schwierigkeit, alle im Kader bei Laune zu halten.

Noch so eine Baustelle im SVB-Fußball. Und nicht die einzige.

Kreiszeitung vom 14.8.2013